„Es gibt viel zu tun, aber arbeiten kann ich“

Die FDP-Bürgermeisterin spricht im Interview über ihr verrücktes Jahr, die Corona-Krise und die wichtigsten Aufgaben für 2021. Sie plant, vor allem die Wirtschaftsförderung zur Chefsache zu machen.

Foto: Jochen Rolfes

RP | Frau Baum, wie haben Sie im Lockdown Weihnachten gefeiert?

URSULA BAUM | Das erste Mal im meinem Leben ohne meine Eltern, aber immerhin mit meinem Mann und meinen Töchtern. Meine Eltern waren online teilweise dazu geschaltet. Die große Weihnachtsfeier mit der Familie meines Mannes mit 25 Personen haben wir abgesagt.

RP | Das vergangene Jahr war nicht nur für die Bürger ein besonderes, sondern auch für Sie persönlich. Hätten Sie sich vor einem Jahr vorstellen können, heute Bürgermeisterin zu sein?

BAUM | Ganz klar nein. Es war ein weiter Weg dorthin. Im Rathaus im Aufzug hängt ein Schild: „4. Etage Bürgermeisterin Ursula Baum“ – immer noch unfassbar, aber wunderbar.

RP | Wie haben Sie die ersten Wochen erlebt?

BAUM | Sehr positiv. Ich bin freundlich im Rathaus aufgenommen worden. Immer wieder habe ich Mitarbeiter im Rathaus getroffen, die ich bereits seit vielen Jahren kenne – teilweise seit über 20 Jahren. Auch die vielen guten Wünsche der Kaarster tun gut. Die Kinder und Jugendlichen rufen: ,Da ist unsere Bürgermeisterin’, und um ein Selfie bin ich auch schon öfters gebeten worden. Es gibt viel zu tun, aber arbeiten kann ich.

RP | Was haben Sie konkret geändert?

BAUM | Als erstes habe ich die direkte Türe zu meinem Büro aufgeschlossen. Jeder kann jetzt hineinschauen und hereinkommen, ohne über das Vorzimmer zu gehen. Ab dem 1. Januar wird die Wirtschaftsförderung zur Chefsache, und darauf freue ich mich sehr. Des Weiteren ist mein Büro papierfrei. Und sobald noch eine Wand eingezogen wird, sollen dort einige Kollegen in einer gemeinsamen Arbeitswelt sitzen. Dort sollen dann neue Themen wie Desksharing, Arbeiten in der Cloud und Homeoffice ausprobiert werden. Auch ‚mein’ Büro wird so multifunktional sein, dass es jeder nutzen kann. Mir reicht ein Arbeitsplatz irgendwo und ein Besprechungsraum, den ich buche, wenn ich ihn benötige.

RP | Corona hat Sie Ihrer größten Stärke beraubt – den Kontakt zu den Menschen. Können Ihr neues Videoformat und die Online-Sprechstunden den fehlenden Kontakt ausgleichen?

BAUM | Nein – ganz klar nicht, aber das wird hoffentlich bald wiederkommen. Darauf freue ich mich. Mein Aufruf daher: Wenn Ihre Gruppe zur Impfung aufgerufen wird, dann lassen Sie sich impfen. Ich möchte die Bürger alle wieder treffen.

RP | Wie sind die Resonanzen darauf bislang?

BAUM | Sehr positiv und noch immer gratulieren mir die Bürger zur gewonnenen Wahl. Durch unsere Pressearbeit in Zeitungen und Social Media fühlen sich die Menschen mitgenommen, und auch meine Entscheidung, das Rathaus tagsüber zu öffnen, um zumindest Termine machen zu können, wird sehr positiv aufgenommen.

RP | Hat Ihnen Lars Christoph nach seiner Niederlage leid getan? Immerhin waren Sie auch früher mal in der CDU…

BAUM | Es war sicher ein schwieriger Gang für ihn, den er aber sehr respektabel gemeistert hat. Wenn ich verloren hätte, wäre das sicher für mich einfacher gewesen. Und alles hat nichts damit zu tun, in welcher Partei man ist, das ist eine Personenwahl, die demokratisch erfolgt ist. Als Sportlerin sind mir Siege und Niederlagen vertraut, man gibt sein Bestes und freut sich über den Sieg – oder gratuliert dem anderen.

RP | Welche Aufgaben kommen auf die Stadt im kommenden Jahr zu?

BAUM | Die Hauptkonzentration wird auf den Gewerbegebieten liegen – hier müssen wir schnellsten vermarktbare Grundstücke haben. Klimaschutz ist ein sehr großes Thema. Genauso wie die Digitalisierung der Verwaltung und der Schulen. Und leider muss ich auch die Konsolidierung der Finanzen mit unserem Kämmerer Stefan Meuser anstoßen. Das wird kein schönes Thema, aber es muss gemacht werden.

RP | Ab Januar übernehmen Sie den Bereich Wirtschaftsförderung. Was wollen Sie ändern?

BAUM | Ich freue mich darauf und werde das Ganze sicher aus dem Aspekt von jemand, der aus der freien Wirtschaft kommt, zusammen mit Axel Süßbrich, unserem neuen Wirtschaftsförderer, angehen. Wir werden auf ein anderes Kommunikationslevel gehen und proaktiv auf alle zugehen, eine One-Stop-Agency einrichten, digitale aber auch präsente Wirtschaftstreffs koordinieren und sofort bei unseren Unternehmen sein, wenn sie um ein Gespräch bitten.

RP | Die Bürger fragen sich, wann auf dem „Filet-Grundstück“ Alt-Ikea endlich etwas zu sehen ist…

BAUM | Wenn alles gut geht in 2021. Mehr kann ich nicht verraten. Aber jemand hat gesagt, er hätte sein Weihnachtsgeschenk nach unserem Gespräch erhalten.

RP | Ein großer Gewerbesteuerzahler ist nach Monheim gegangen. Wie wollen Sie verhindern, dass weitere Firmen abwandern?

BAUM | Kaarster Unternehmer sind gerne in Kaarst, und wenn wir als Wirtschaftsförderung gut kommunizieren, dann bleiben sie auch gerne. Keine Stadt kann die 250 Punkte Gewerbesteuer von Monheim bieten, aber auch in Monheim ist nicht alles Gold, was glänzt. Außerdem war ich schon in Monheim, und da jeden Tag zum Arbeiten hinzufahren, ist stressig.

RP | Gepaart mit den Verlusten aus der Corona-Krise: Muss die Stadt Kaarst sparen?

BAUM | Die Verwaltung muss in enger Zusammenarbeit mit der Politik konsolidieren. Da geht kein Weg dran vorbei. Das wird nicht schön und nicht alle werden glücklich sein. Aber das ist wie im Privatleben: Wenn ich das Geld nicht habe, dann kann ich es nicht ausgeben und mir nichts Neues leisten und muss die alten Schuhe halt ein paar Jahre länger tragen.

RP | Wie wollen Sie weitere Unternehmen nach Kaarst locken?

BAUM | Wir haben eine extrem tolle Ausgangslage: Direkt an der Autobahn, direkt an der S28 und nur zehn Minuten zum Flughafen – das sind schon tolle Argumente. Auch hier müssen wir proaktiv auf Firmen zugehen, von denen wir wissen, sie suchen ein neues Zuhause. Genau das werden wir tun.

RP | Wie viel Platz ist in der Stadt noch für neue Häuser oder Wohnungen?

BAUM | Leider ist der Platz sowohl für Gewerbe als auch für Wohnraum begrenzt. Das kommt durch die relativ kleine Fläche von Kaarst. Viele alte Häuser werden bald abgerissen und durch neue ersetzt. Das ist ökologisch gut. Aber nur für die Menschen, die genug Geld haben. Wir leben in einer freien Marktwirtschaft und die gibt den Preis vor.

RP | Gibt es konkrete Pläne, wie Sie das Wohnen günstiger gestalten können?

BAUM | Die Stadt kann Wohnraum nur dort preiswerter machen, wo ihr die Grundstücke gehören. Auf dem Gelände der bald abgerissenen Gesamtschule kann ich mir auch beispielsweise viele Erbbaugrundstücke der Stadt vorstellen. Das entlastet bei den Anfangskosten ungemein. So macht es die Kirche in vielen Bereichen. Ansonsten schauen wir bei allen eigenen Grundstücken immer genau hin und versuchen, durchmischtes Wohnen hinzubekommen.

RP | Wie hat das Corona-Virus ihr Leben beeinflusst?

BAUM | Wie auch die Flüchtlingskrise bringt dieses Virus mich dazu, noch einmal viel bewusster zu leben. Das Virus hat sehr deutlich gezeigt, wer stärker ist. Davor habe ich auch in der Natur großen Respekt.

RP | Und wie das Leben der Stadt?

BAUM | Es ist ruhig geworden. Keine Veranstaltungen, keine Kultur, kein geselliges Beisammensein. Viele Eltern haben ein eklatantes Problem zu arbeiten, weil Kitas, Schulen und die OGS teilweise offen und dann wieder geschlossen sind. Positiv war und ist, dass die Kaarster einen tollen Zusammenhalt zeigen und sich gegenseitig helfen. Als die Tafel ausfiel, wurde diese direkt von Ehrenamtlern weiter betrieben, und die Spendenbereitschaft für die notwendigen Lebensmittel war unglaublich.

RP | Rechnen Sie damit, dass in Kaarst viele Unternehmen Insolvenz anmelden werden?

BAUM | Einige werden es tun, denn zum jetzigen Zeitpunkt ist noch unklar, wann wir tatsächlich wieder so leben können wie zuvor. Ich kenne Firmen, die sind seit März geschlossen, ohne Chance wieder zu eröffnen. Wir versuchen mit der Wirtschaftsförderung dort zu unterstützen, wo es geht. Aber das bedeutet meist mehr zuzuhören und Wege durch die Coronaanträge und durch Stundungen zu finden.

RP | Die Initiative Kaarster for Future fordert, die CO2-Belastung bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren. Ist das realistisch?

BAUM | Haben wir eine Wahl? Es gibt nur diese eine Welt, also gibt es keinen Plan B und auch keinen Planeten B. Jeder ist gefragt, sein Handeln zu überdenken. Dann ist es realistisch.

RP | Wie wollen Sie das erreichen? Den städtischen Fuhrpark teilweise auf Elektromobilität umzustellen alleine reicht nicht aus…

BAUM | Ich denke, es sind viele kleine Schritte, die zu einem Großen werden. Beratung in punkto Dach- und Fassadenbegrünung sowie Photovoltaik, besseren Nahverkehr, damit man das Auto stehenlassen kann, Homeofficelösungen, die Verkehrssituation der Radwege verbessern, Plastik vermeiden, papierfrei werden und Vieles mehr.

RP | Wie soll es ihrer Meinung nach in den Schulen weitergehen? Die technische Ausstattung für den Distanzunterricht reicht noch nicht aus.

BAUM | Generell bin ich aus sozialen Gründen für reinen Präsenzunterricht, aber auch in den Schulen muss die Digitalisierung viel mehr Einzug nehmen. Dazu werde ich mir hoffentlich bald mit den Schulleitern digitale Schulen in unserem Umfeld ansehen. Das Internet, Clouds, Jitsii, Zoom, Facebook, oder Whatsapp sind zu verstehen und zu nutzen. Grundvoraussetzung dafür ist, dass alle Lehrer geschult sind, es ein gutes Online-Lernportal, W-lan in den Schulen und zu Hause gibt, damit alle an der digitalen Welt teilnehmen können. Da gibt es noch extrem viel zu tun, und der ‚Apparat’ ist einfach zu langsam.

RP | Was wünschen Sie sich und den Bürgern für das Jahr 2021?

BAUM | Ich wünsche allen Gesundheit, Frieden und die Zuversicht, alles positiv zu nehmen und mit einer gewissen Gelassenheit die Situation zu meistern.

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